(Foto: Josh Willink via Pexels)
14. April 2022
Pionierjournalismus und Ausbildung: Müssen jetzt alle Pioniere werden?
Die Gruppe der Pionierjournalist:innen ist eine, die Wiebke Loosen und Andreas Hepp 2019 erstmals im Rahmen ihrer Forschungen identifizierten. Mittlerweile gibt es Journalist:innen wie Gabor Steingart mit seiner Redaktion „Media Pioneer“ und dem „Medienschiff ThePioneerOne“, die sich offensiv als Medienpioniere bezeichnen und damit viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Tatsächlich besitzen aktive Pioniere geschätzte Stärken wie Mut und Weitsicht. Sollten Journalist:innen deshalb nun alle Pioniere werden?
Ein Gastbeitrag von Christian Sengstock
Am 20. Oktober 2020 kündigte der Axel Springer Verlag an, mit der „FreeTech – Axel Springer Academy of Journalism and Technology“ die eigene Technologie-Kompetenz langfristig auszubauen und dabei Journalismus und Technologie zu verbinden. Die Ausbildung von Journalisten und Tech-Experten soll in der FreeTech Academy unter einem Dach erfolgen. Dafür wird die bisherige Axel Springer Akademie integriert und um einen technologischen Ausbildungsstrang ergänzt.
Als stellvertretender Direktor der Journalistenausbildung bei der FreeTech Academy ist Rudolf Porsch maßgeblich an der Ausbildung von Journalist:innen beteiligt. Anders als Gabor Steingart, der mit seiner Redaktion laut eigener Aussage „eigentlich alles anders“ macht als „herkömmliche Medien“, ist für ihn der Trend zur Glaubwürdigkeit und Authentizität besonders wichtig. „Journalisten müssen transparenter arbeiten und eine höhere Kompetenz in ihrem Fachbereich mitbringen“, stellt Porsch heraus. Transparenz ist auch Rezipienten besonders wichtig. Dies arbeiteten Loosen, Reimer und Hölig in ihrem Arbeitspapier „Was Journalisten sollen und wollen“ des Hans-Bredow-Institus heraus. Auch wenn an der Transparenz-Schraube noch gedreht werden kann, bescheinigt das Papier Journalisten insgesamt, dass sie viel von dem wollen, was Rezipienten von ihnen erwarten und wenig, was auch Rezipienten als unwichtig erachten.
Pionierjournalist:in – Sein oder nicht sein?
Weder das Bestreben alles anders zu machen noch eine hohe Transparenz sind ausschließlich dem Pionierjournalismus zuzuordnen. Ein/e Pionierjournalist:in ist für Rudolf Porsch jemand, „der die Verbindung zwischen Mensch und Maschine vorantreibt“. Für ihn sei Journalismus schon immer technisch vorangetrieben gewesen. „Das betraf zunächst die Distribution. Heute sind auch Recherche und Produktion zunehmend technisch getrieben“, sagt Porsch. Hepp und Loosen haben in ihrer Forschungsarbeit „Pioneer journalism: Conceptualizing the role of pioneer journalists and pioneer communities in the organizational re-figuration of journalism” sechs Kriterien identifiziert, die Journalist:innen zu Pionierjournalist:innen machen. Zwei wichtige Eigenschaften von Pionierjournalist:innen sind es, den Berufsstand mit experimentalem Einsatz weiterzuentwickeln. Sie sind selbst Vorreiter:innen in einem Bereich und andere akzeptieren sie als solche. Hierbei kann es sich um gestandene Medienhäuser, Start-Ups und Einzelpersonen handeln.
Eines dieser Start-Ups ist Perspective Daily. Das Online-Magazin wurde im Dezember 2015 gegründet und veröffentlicht pro Tag einen einzelnen Artikel, also insgesamt fünf pro Woche. Es arbeitet nach den Prinzipien des konstruktiven Journalismus und finanziert sich über Mitgliedsbeiträge. Die ersten 12.000 Mitgliedschaften hat das Start-Up durch eine Crowdfunding-Kampagne gewonnen. Einer der Redakteure von Perspective Daily ist Dirk Walbrühl, der sich selbst nicht als Pionierjournalist bezeichnet. Für ihn gehören auch neue Herangehensweisen zum „normalen“ Journalismus. Er sieht im Pionierjournalismus außerdem auch Schwächen: „Pionierjournalimus läuft Gefahr, sich vom traditionellen Journalismus zu entkoppeln. Nur weil man etwas neu macht, ist nicht alles davor schlecht. […] Kritik ist gut und richtig. Traditioneller Journalismus muss sich diese gefallen lassen. Das macht Pionierjournalismus und andere Ansätze jedoch nicht zu Zukunftsjournalismus. Alle Formen haben ihre Daseinsberechtigung. Nicht der ganze Journalismus muss sich in eine bestimmte Richtung verändern“, führt Walbrühl aus.
„Pionier“ als das neue „Innovation“
Die verschiedenen Aussagen von Porsch, Steingart und Walbrühl zeigen im Hinblick auf die von Hepp und Loosen definierten Kriterien für Pionierjournalismus, dass nicht jeder, der ein/e Pionierjournalist:in ist, sich auch als solche/r bezeichnet. Dies hat auch Wiebke Loosen im Rahmen ihrer Forschung festgestellt: „Die allermeisten, mit denen wir im Rahmen dieses Projektes sprechen, würden niemals von sich behaupten, sie wären Pioniere“. Gleichzeitig würden Hepp und Loosen nicht jedem, der sich als Pionierjournalist:in bezeichnet, diese Eigenschaft auch zuschreiben. Der Begriff Pionier lässt sich jedoch gut vermarkten. Er birgt in der Forschung allerdings auch seine Probleme. „Der Begriff ist schon gut gewählt, aber vor allem mit dem soziologischen Backoffice. Bei den Interviews geht es oft darum, ihn zu vermeiden, weil die Leute ihre Arbeit nicht großartig, innovativ oder spannend finden. Für sie ist sie normal“, sagt Loosen.
Es bleibt abzuwarten, ob sich der Pioniers-Begriff langfristig als das hält, wofür ihn Loosen und Hepp vorgesehen haben: Als Bezeichnung einer journalistischen Nische und nicht als Modebegriff, wie es der „Innovations-Begriff“ über die Zeit geworden ist. Zur Unterscheidung zwischen Innovation und Pionier äußerte sich Gabor Steingart wie folgt: „Für mich ist der Pionier ganzheitlicher. Der Begriff „Innovation“ ist sehr technisch behaftet. Bei der Erkundung der Antarktis und der Entdeckung des Südpols gab es moderne Techniken wie zum Beispiel den Motorschlitten, die Herr Scott als Innovation mitgenommen hatte. Aber die Technik ist hier nicht der Pionier. Die Pioniere waren damals Scott und Ammons, die sich den Wettlauf zum Südpol geliefert haben. Also die Menschen, die neueste, raffinierteste Techniken oder Strategien nur benutzen.“
Pionierjournalismus als Ziel für alle?
Es hat sich gezeigt, dass in Deutschland viele Journalisten als Pioniere in ihren Bereichen tätig sind, ohne sich selbst als solche zu bezeichnen. Als Fundament gelten für diese nicht selten die bewährten journalistischen Werte wie Transparenz, Orientierung am Rezipienten, fundierte Recherche und moderne Wege der Distribution. Bei der Ausbildung von Journalist:innen ist daher nicht die Frage, ob Pionierjournalist:innen ausgebildet werden sollen, sondern zukunftsfähige Journalist:innen. Diese erfüllen nicht alle Kriterien, die Hepp und Loosen für Pioniere festlegen. Sie sind jedoch offen für neue Wege von Recherche und Produktion bis hin zur Distribution und können folglich mit neuen Verbreitungskanälen, Recherchemethoden oder Arten der Informationsvermittlung umgehen und verfügen in ihren Fachgebieten über fundierte Kenntnisse. Dafür setzen sich Bildungseinrichtungen wie die Technische Hochschule Nürnberg oder auch Axel Springers FreeTech Academy ein.