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Gender-Gap und der „ männliche Körper als Norm“ in Forschung und Entwicklung

Gender-Gap beschreibt die gesellschaftliche Ungleichheit bei der Behandlung der Geschlechter. Im Bewusstsein ist vielen das Phänomen ungleicher Bezahlung auf dem Arbeitsmarkt von Männern und Frauen – das wurde aktuelle auch durch die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises 2023 wieder ins Bewusstsein geholt. Aber: es gibt auch eine Ungleichheit in der Technikentwicklung, was sich zum Beispiel bei Sicherheitssystemen in Kraftfahrzeugen zeigen lässt. Immerhin hat es bis Mitte 2022 gedauert bis der erste weibliche Crashtest-Dummy vorgestellt wurde. Eingesetzt wird er immer noch nicht. Der männliche Körper als Norm gilt also weiterhin für Sicherheitsstandards. Journalismus und vor allem Wissenschafts- und Technikjournalismus muss das in der Ausbildung und der Praxis aufgreifen und hinterfragen.

Gesellschaftliche Ungleichheiten und die Gleichstellung der Geschlechter werden inzwischen häufiger diskutiert, so vielleicht der allgemeine Eindruck. Die Soziologin Jutta Allmendinger konstatierte im Sommer anlässlich der re:publica 2023 allerdings, dass mit Blick auf die Gleichstellung der Geschlechter eher eine Rückwärtsbewegung zu beschreiben sei. „Gender Gap“ ist der geläufigste Begriff, um die Ungleichheit bei Chancen in der privaten und berfulichen Entwicklung der Geschlechter zu beschreiben. Allmendinger differenziert hierbei noch in „Pay Gap”, „Care Gap”, „Position Gap” und „Pension Gap”. Nur: Nachdem Studien vorgestellt, Interviews gegeben oder Key Notes gehalten sind, verschwindet das Thema wieder von der Agenda. Eine Auffrischung kam jüngst, weil der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 2023 an die Ökonomin Claudia Goldin vergeben wurde. Offiziell erhält sie den „Sveriges Riksbank Prize in Economic Sciences in Memory of Alfred Nobel 2023“.

Sie ist Volkswirtin und Professorin an der Harvard University und wird für ihre Forschung zur Rolle von Frauen auf dem Arbeitsmarkt ausgezeichnet, konkret für die “Aufdeckung der wichtigsten Ursachen für geschlechtsspezifische Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt” wie die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm es formuliert. Wie es um den Arbeitsmarkt bei den Ökonomen selbst bestellt ist, ahnt man denn auch, wenn sowohl die Süddeutsche Zeitung als auch der Deutschlandfunk in ihren jeweiligen Beiträgen nur männliche Fachkollegen die Verleihung des Nobelpreises an Goldin einordnen lassen. Die Tatsache, dass die Redaktionen hierbei vor allem auf Agenturmaterial zurückgegriffen haben, macht es nicht wesentlich besser.

Einseitige Perspektive auch in der Technikentwicklung 

Die Dominanz der männlichen Perspektive ist aber auch in der Technikentwicklung zu konstatieren. Denn es hat bis zum Juni 2022 gedauert, bis der erste weibliche Crashtest-Dummy der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Und bis die Entwicklung des Teams rund um die schwedische Forscherin Dr. Astrid Linder standardmäßig in Testreihen eingesetzt wird, vergehen sicher noch weitere Monate. Europäische und internationale Test- und Sicherheitsvorschriften schreiben bis heute den klassischen, männlichen Maßen nachempfundenen Crashtest-Dummy vor. Aber das wird kaum in der Öffentlichkeit und auch nicht im Technikjournalismus diskutiert, oder täuscht der Eindruck? Das haben Studierende des Studiengangs Technikjournalismus/Technik-PR im Rahmen des Lehr-/Forschungsprojekts GITJOU (Gender, Innovation und Technikjournalismus) untersucht. Die Ergebnisse ihres Teilforschungsprojekts haben (im Bild v.l.n.r.) Abdülbaki Sürüm, Sümeyra Kara, Aysegül Maraslioglu, Eda Tekin und Yeliz Kacanlar Anfang Juli beim Treffen der Lehr-/Forschungsprojekte der TH Nürnberg präsentiert. 

Astrid Linder ist Professorin an der Chalmers University of Technology in Stockholm. Bereits im Jahr 2000 erschien ihre Abhandlung zu einem neuen mathematischen Nackenmodell, das Auswirkungen von einem Heckaufprall beim Auto besser berechnen half. In den Jahren ab 2011 erschienen wissenschaftliche Artikel zu adaptiven Autositzen, die Verletzungsrisiken von Frauen und Männern unterschieden oder Artikel, die den männlichen Körper als Norm in der Crash-Forschung thematisierten. Nur: Diese langjährige Forschung wird in der Berichterstattung zum ersten weiblichen Crashtest-Dummy nicht aufgegriffen, sie konzentriert sich vielmehr auf den Moment der Vorstellung.

Das ist auch der Kritikpunkt von Julia Koch, Wissenschaftsredakteurin beim Spiegel. Sie fordert im Interview, im Wissenschafts- und Technikjournalismus nicht nur über technische Details zu berichten, sondern auch die gesellschaftlichen Auswirkungen zu hinterfragen. Sicherheitstechnik im Kfz am männlichen Körper auszurichten gehe an einer sich verändernden Gesellschaft vorbei, in der mehr Frauen aber eben auch mehr ältere Menschen hinter dem Steuer eines Kfz sitzen. Und beide Gruppen haben eine andere körperliche Konstitution, was Schutzkonzepte, die auf jüngere Männer ausgerichtet sind, eher zu einer Gefährdung für diese Gruppen mache, sagt sie in ihrem Artikel „Warum Crashtest-Dummys diverser werden müssen“. Nur, viele Beiträge im Technik- und Wissenschaftsjournalismus würden sich zu sehr auf die technischen oder wissenschaftlichen Details von Forschungen und Technologien konzentrieren und die gesellschaftliche Relevanz oder die Auswirkungen von Technik wenig hinterfragen, so Koch. 

Wie lief also die Berichterstattung über „Eva“, den ersten weiblichen Crashtest-Dummys? Im Rahmen des Projektes GITJOU hatten die Studierenden Medienberichte analysiert, die im Anschluss an die Präsentation des weiblichen Crashtest-Dummys erschienen waren. Dabei haben sie zunächst ausgewertet, ob eher Redakteurinnen das Thema aufgreifen und welche Expert:innen in den Beiträgen auftreten. Die untersuchten Beiträge stammten von Zeit online, Spiegel online oder Frankfurter Rundschau bis hin zu Deutschlandfunk Nova oder BBC News oder CNN News, um nur eine Auswahl zu nennen. Entgegen der Annahme war das Geschlechterverhältnis bei der Autorenschaft der Beiträge nahezu ausgewogen und es wurden sogar mehr Expertinnen als Experten in den Beiträgen zitiert, so Yeliz Kacanlar.

Die schwedischen Forscherin Linder betonte im Gespräch mit Eda Tekin allerdings, dass sie sehr selten für Interviews zum neuen Crashtest-Dummy angefragt worden sei. Dabei forscht sie zum erhöhten Verletzungsrisiko von Frauen als Fahrzeuginsassen wie gezeigt seit über zehn Jahren und publiziert regelmäßig hierzu. Dies war in den untersuchten Beiträgen allerdings nicht erwähnt. Linder sei nach eigenen Angaben zu Beginn ihrer Forschung für ihr Vorhaben eher verspottet worden, berichtet Tekin aus dem Gespräch. Und auch die aktuelle Berichterstattung wird in Kommentaren durch abqualifizierende und misogyne Äußerungen begleitet, wie beispielhaft in den Kommentierungen des Insta-Post des WDR-Radiosenders 1Live zu sehen ist.

Erster weiblicher Crashtest-Dummy entwickelt - Instagram Post

Aufgabe auch für die Ausbildung von Technikjournalistinnen und Technikjournalisten

Dass mehr über Genderaspekte in der Technik berichtet werden müsste, darin stimmen Spiegel-Wissenschaftsredakteurin Julia Koch und Ulla Ellmer, Redakteurin für Auto und Mobilität beim Kicker überein. Beide haben selbst über den Crashtest-Dummy „Eva“ berichtet. Und Koch konstatiert, dass sie als Reaktion auf ihren Artikel vor allem Rückmeldungen von Forschenden bekommen habe, die auf ihre eigenen Forschungen zu diesem Thema verwiesen. Also braucht es mehr Redaktionen und Journaist:innen, die gesellschaftliche Dimensionen von Technik und speziell Genderdimensionen in den Blick nehmen. Aber: Das Gender-Gap ist eben auch eine Leerstelle in der Ausbildung von Journalist:innen.

In ihrer wissenschaftlichen Abschlussarbeit im Studiengang Technikjournalismus/Technik-PR fragte Zeynep Yurdakul: „Gibt es einen Technik Gender Gap in der Journalist: innenausbildung?“. Sie untersuchte die Curricula von Wissenschafts- und Technikjournalismus-Studiengängen an Universitäten und Hochschulen und betrachtete dabei sowohl Studiengänge mit Bachelor- als auch Master-Abschluss. Yurdakul konstatiert, dass Fragen der gendersensiblen Technikberichterstattung noch eher wenig in den Curricula oder in der Ausbildungspraxis zu finden sind. Ein wichtiger Aspekt, der nach ihrer Ansicht künftig mehr Berücksichtigung erfahren muss. Ellmer sieht als eine Ursache für die fehlende Gendersensibilität auch die nach ihrer Wahrnehmung noch zu geringe Zahl an Redakteurinnen in den Technikressorts. Daran arbeiten zumindest die Dozent:innen im Studiengang Technikjournalismus/Technik-PR in Nürnberg. Dort haben bei den Studierenden die Frauen von Beginn an die Mehrheit im Studiengang.

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