Toggle Navigation

„Wir müssen die Männer mit ins Boot holen” – Astrid Lindner im Interview

Die schwedische Ingenieurin Astrid Linder forscht seit Jahren zum Verletzungsrisiko von Frauen in Kraftfahrzeugen. Ende 2022 präsentierte Sie mit ihrem Team den ersten weiblichen Crashtest-Dummy. Das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit – aber auch das ist noch nicht das Ende, sondern ein Zwischenschritt.

Astrid Linder im Interview mit Eda Tekin über den langen Weg, Gleichberechtigung auch bei Sicherheitsinteressen zu erreichen.

Dr. Astrid Linder ist eine schwedische Ingenieurin und Forscherin für Verkehrssicherheit. Sie ist außerordentliche Professorin für Verletzungsprävention an der Chalmers University Göteborg und Forschungsdirektorin für Verkehrssicherheit am Schwedischen Nationalen Forschungsinstitut für Straßen- und Verkehrswesen (VTI). Sie forscht zu Verkehrssicherheit, Modellen des Menschen in Crashtests, Verletzungsprävention und Gegenmaßnahmen bei Unfällen. Da der von der Industrie bis heute genutzte und in internationalen Vorschriften festgelegte Crashtest-Dummy zum Beispiel die Gewichtsverteilung und die dynamischen Reaktionen von Frauen als Insassen von Unfall-Kfz nicht berücksichtigt, entwickelte Linder zusammen mit ihren Kollegen „EvaRID“ – eine anthropometrisch geeignete weibliche Crashtest-Dummy zur Sicherheitsbewertung von Frauen in Fahrzeugen. Diesen Crashtest-Dummy stellten Linder und Kolleg:innen im Dezember 2022 der Öffentlichkeit vor. Es war ein langer Weg bis dahin. Denn bereits auf dem „Gender Summit“ referierte sie zu: „Gender as a resource of new innovation: EvaRID – a crash test dummy model of an average female“. Das war am 8. November 2011.

Wie wir bereits wissen, haben Frauen ein doppelt so hohes Verletzungsrisiko bei Autounfällen wie Männer. Dennoch hat es lange gedauert, bis Frauen bei der Entwicklung von Fahrzeugsicherheitssystemen berücksichtigt wurden. Woran liegt das?

Linder: Das stimmt, insbesondere wenn es um Schleudertrauma geht. Natürlich gibt es Fahrzeughersteller, die sowohl Männer als auch Frauen berücksichtigen. Bei der Sicherheitsbewertung wird jedoch verlangt, dass bei allen Tests nur das Modell eines durchschnittlichen Mannes verwendet wird. Selbst ein ambitionierter Automobilhersteller, der etwas entwickeln würde, was für die ganze Bevölkerung gut funktioniert, kann dies im Testverlauf nicht nachweisen. Wenn sie ein Modell für einen Teil der Bevölkerung entwickeln würden, der derzeit überhaupt nicht vertreten ist, würden die Regulierungsbehörden dies ablehnen.

Wieso lehnen die Regulierungsbehörden das strikt ab?

Linder: Das sind Probleme die uns schon seit den späten 1960er Jahren begegnen und in allen nachfolgenden Generationen. Im Jahr 1983 gab es zum Beispiel eine große Studie aus den USA, bei der alle Arten von Messungen an der Bevölkerung durchgeführt wurden: Größe, Gewicht und so weiter. Dies wurde gemeldet und ist seitdem Grundlage für unsere Entwicklungen. Sie spezifizierten eine kleine Frau, eine durchschnittliche Frau, einen durchschnittlichen Mann und einen großen Mann. Aber die durchschnittliche Frau hat es nie zum Dummy geschafft, die anderen drei schon. Deshalb habe ich hier von einem systematischen Problem gesprochen. Und dieses Problem gibt es schon lange, länger als Sie und ich da sind. Die Vorschrift sieht bis heute vor, dass als Fahrer das Modell eines durchschnittlichen Mannes verwendet werden muss.

Wie reagierten die Menschen, als Sie den Bedarf an weiblichen Crashtest-Dummys hervorgehoben haben?

Linder (lacht): Sie sagten: „Träum weiter, Mädchen.“ Es gab wirklich kaum Unterstützung. Du musst die Arbeit einfach erledigen, das Geld finden, recherchieren und veröffentlichen.

Obwohl Sie als leitende Ingenieurin in dieser Forschung die größte Expertise haben, werden Sie in Artikeln über „EvaRID“ kaum zitiert oder befragt, so zumindest unsere Auswertung von deutschsprachigen Medien. Häufig werden stattdessen männliche Experten herangezogen. Woran liegt das?

Linder: Ich denke, Sie sprechen etwas sehr Interessantes auf diesem Gebiet an. Es würde mich wundern, wenn es nur in Deutschland so wäre, ich denke, es ist ein globales Phänomen. Ich mache so viele Interviews wie möglich, ich versuche alle Anfragen zu beantworten, die ich bekomme. Ich weiß, dass viele Artikel geschrieben wurden, aber ich selber wurde kaum befragt. Ich würde schätzen, dass 90 Prozent der Journalisten die mich kontaktiert haben, Frauen waren. Männer sprechen vielleicht einfach lieber mit Männern.

Gab es vor der offiziellen Veröffentlichung von „EvaRID“ schon Anfragen zu ihren Forschungsergebnissen?

Linder: Wie Sie wissen habe ich einen Doktortitel, veröffentliche weltweit und bin seit langem auf diesem Gebiet tätig. Als ich 1999 Doktorandin war, habe ich eine Literaturrecherche durchgeführt und dabei alle Daten zusammengestellt, die ich finden konnte. Den ersten Hinweis darauf, dass Frauen weniger gut vor Schleudertraumata geschützt sind, habe ich in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1969 gefunden. Das Wissen war also schon immer öffentlich vorhanden.

Als ich damals zum ersten Mal fragte, warum das nicht behoben wird, antworteten sie mir, dass meine Daten nicht verfügbar seien und wir nicht die richtige Recherche ausgeführt hätten. Deshalb habe ich dafür gesorgt, dass die Forschung darüber, wie Frauen und Männer bei geringem Schweregrad in Unfällen reagieren – denn das brauchen sie zur Validierung ihrer Modelle – vorangebracht wird. Die nächste Antwort war dann: „Oh, wissen sie, es ist so schwer und so teuer.“ Also haben wir das nötige Geld eingeworben, um dann die Herstellung des virtuellen Dummy-Modells einer durchschnittlichen Frau „EvaRID“ und auch den ein Prototyp eines darauf basierenden physischen Modells des durchschnittlichen Mannes „BioRID“ zu finanzieren. Danach habe ich den TEDx-Talk gemacht, Interviews gegeben und weiterhin wissenschaftlich veröffentlicht und geschaut, wo es Wissenslücken gibt. Der nächste Schritt bestand darin, ein physisches Modell der durchschnittlichen Frau zu erstellen, als auch die Seat EvaluaCon Tools (SET) 50F und 50M. 

Wieso wird in vielen Forschungen der Mann als Standard genommen?

Linder: Weil in vielen Vorschriften steht, dass sie der Standard sein sollen. Wie soll es also anders sein?

Auch heute gibt es außer „Eva“ keine weiteren weiblichen Crashtest-Dummys auf dem Markt, außer solche, die sich nur in der Größe von den männlichen unterscheiden. Weshalb ist das Interesse so gering?

Linder: Wie bereits erwähnt, liegt das hauptsächlich an den entsprechenden Vorschriften. Aber wir legen als Gesellschaft die Regeln fest: die in der EU 27 verwendeten Regelungen werden in der UN ausgehandelt. Jedes Land, jede Regierung kann entscheiden, zu welchen Aspekten sie beitragen möchten oder nicht. Aus meiner Erfahrung habe ich gesehen, dass es in Teilen der deutschen Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat, die Kluft zwischen den Geschlechtern zu schließen. In Teilen der US-amerikanischen Gesellschaft ist es ähnlich. Das Interesse kann also durchaus groß sein, aber die Reaktionen sind wirklich ganz unterschiedlich. Ich war einmal in einer Radiosendung in Australien und las in den Kommentaren auch schon: „Geh zurück in die Küche!“

Crashtest-Dummys sind sehr kostspielig. Eine Alternative ist die reine virtuelle Simulation – wird hier der weibliche Körper schon häufiger berücksichtigt?

Linder: Kostspielig ist der Verlust von Leben und Gesundheit bei einem Unfall. Wenn es darum geht, den Verlust von Leben und Gesundheit bei einem Unfall zu reduzieren, haben wir schon viel erreicht, aber es kann noch viel mehr getan werden. Wenn man es beispielsweise mit Elektrofahrzeugen vergleicht, ist das sehr teuer und nimmt viel Zeit in Anspruch. Der CEO von Volvo sagte 2014, dass Volvo niemals Elektroautos bauen werde, und nun haben sie letztes Jahr eines auf den Markt gebracht. Wenn es um Geld geht, dann ist es wirklich nicht so teuer. Unser Ziel ist es, in Zukuna physische Tests mit virtuellen Tests zu ergänzen – und das gilt für die Schutzleistung sowohl für Frauen als auch für Männer. Aber wir müssen erst viele Strukturen schaffen, bevor wir Simulationen zur Sicherheitsbewertung verwenden können.

Bei Volvo wurde auch der weltweit erste schwangere Crashtest-Dummy entwickelt. Es handelt sich hierbei um ein Computermodell, mit dem unter anderem untersucht werden kann, wie sich der Insasse bewegt und wie der Sicherheitsgurt und der Airbag auf die Frau und den Fötus wirken. Können wir in der Zukunft auf weitere solche Projekte hoffen?

Linder: Es ist wichtig zu unterscheiden, was Autohersteller intern tun und was bekannt wird. Viele Automobilhersteller legen großen Wert auf Sicherheit. Was wir sehen, ist nur ein Bruchteil dessen, was sie im Inneren tun, und so sollte es auch sein. Aber ich hoffe, dass andere Automobilhersteller sich von der Volvo-Initiative inspirieren lassen und ihre Bemühungen teilen.

Was können Journalistinnen tun, um dem Gender Gap entgegenzuwirken, vor allem im technischen Bereich?

Linder: Wir müssen zusammenarbeiten und die Männer gleichermaßen mit ins Boot holen. Nicht alles hinterfragen sobald es mal um „Gender-Themen“ geht, sondern offen sein. Wenn wir zusammenarbeiten, kommen wir auch als Gesellschaft wieder näher zueinander.

Über den Autor

Redaktion

Redaktion

Meine Artikel:

Kommentiere