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Technikzukünfte: Was unsere Visionen beeinflusst

Unsere Vorstellungen von der Zukunft und von der darin vorkommenden Technik haben einen wichtigen Einfluss auf viele gesellschaftliche Prozesse. Manche von ihnen haben sich über die Zeit verändert, andere nicht. Warum das so ist und wer unsere Zukunftsvorstellungen beeinflusst.

„Einen Blick in die atomar angetriebene Zukunft bietet der Nucleon, ein Modell im Maßstab 3/8, das von führenden Designern der Ford Motor Company entwickelt wurde“, verkündet der Automobilhersteller Ford im Jahr 1958 in einer Pressemitteilung. „Das Modell ist ausgestattet mit einer Treibstoffkapsel, die zwischen zwei Heckauslegern befestigt ist. Die Kapsel, die einen radioaktiven Kern für die Antriebsenergie enthält, kann vom Fahrer je nach Leistungsbedarf und zurückzulegender Strecke leicht ausgetauscht werden“, heißt es dort weiterhin. Mehr als 5.000 Meilen sollte das atomgetriebene Auto mit einer Tankladung fahren können.

Diese Vorstellung einer künftig angewandten Technik, einst als realistisch angesehene Vision, erscheint wohl den meisten heute – mehr als 60 Jahre später – eher absurd. Das Beispiel zeigt, wie sehr sich unsere Vorstellungen von zukünftig angewandter Technik teils über die Zeit verändern. Um dies feststellen zu können, genügt jedoch bereits ein Blick in die nähere Vergangenheit. So beschreibt ein Artikel der Süddeutschen Zeitung aus dem November 1995 die „Stadtbahn“ als Lösung aller Mobilitäts-Probleme. Im Jahr 2022 spielt die Hoffnung auf einen künftig besser funktionierenden ÖPNV wohl eher eine untergeordnete Rolle auf öffentlichen Agenda. Stattdessen im Zentrum der politischen und medialen Aufmerksamkeit: Elektroautos. Diese präsentiert beispielsweise das Bundesministerium für Umwelt und Verbraucherschutz BMUV als umweltfreundliches, emissionsfreies Fortbewegungsmittel für die Zukunft.

Carsharing schon 1995 Mobilitätskonzept der Zukunft

Andere Darstellungen von sogenannten Technikzukünften, also Beschreibungen möglicher Zukunftsvarianten, bei denen die Entwicklung von Wissenschaft und Technik im gesellschaftlichen Kontext im Zentrum steht, sind wiederum überraschend ähnlich geblieben. Ein weiterer Artikel der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 1995 beschreibt beispielsweise ein neues Konzept „für die zukünftige Mobilität in der Stadt“:

„Tulip (Transport Urbain Libre Individuel et Public) basiert auf der Idee, eine Flotte von Elektrofahrzeugen von den Kommunen zur Verfügung stellen zu lassen, die an festen Stationen vom Kunden gemietet werden können und über eine Zentrale verwaltet werden. […] In Ergänzung zu den bereits vorhandenen öffentlichen Verkehrsmitteln würden an verschiedenen Stellen der Stadt, etwa mit einer Verbreitung wie die Metro, Stationen mit zweisitzigen E-Fahrzeugen installiert werden. Der Benutzer läßt sich registrieren und bekommt eine Fernbedienung mit persönlicher Codenummer ausgehändigt, die wie ein elektronischer Schlüssel funktioniert. An der nächsten Tulip-Station sucht sich der Kunde ein freies Fahrzeug aus – er erkennt es an der grünen Kontrollleuchte auf dem Dach – und drückt die Starttaste.“

Aufmerksamen Lesenden kommt das Konzept wahrscheinlich bekannt vor, nur unter anderem Namen. „Carsharing“ wird auch heute noch als die „Zukunft der Mobilität“ gefeiert  – wenn auch die Euphorie aufgrund mangelnder Rentabilität für Anbieter langsam abnimmt.

Autos meist selbstverständlich

Außerdem wird früher wie heute meist wie selbstverständlich angenommen, dass wir uns in Zukunft weiterhin in Autos fortbewegen werden – mit welcher Antriebsform auch immer. Doch warum ist das so? Denkbar wäre ja beispielsweise auch die Abschaffung von Autos für Privatpersonen, zugunsten einer anderen technischen Mobilitätslösung mit weniger Nachteilen.

„Viele Zukunftsvorstellungen bleiben über lange Zeit gleich, auch wenn sie nicht unbedingt die technisch vernünftigsten sind“, sagt auch Bernd Flessner, Zukunftsforscher am Zentralinstitut für Wissenschaftsreflexion und Schlüsselqualifikationen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Als eine der Ursachen sieht er die Macht der Unternehmen: „In vielen Fällen sorgen verschiedene Lobbys für Stillstand in der technischen Entwicklung.“

Lobby bremst Hanfauto aus

Bereits der Automobilpionier Henry Ford sei mit einer seiner Ideen aufgrund der Einflussnahme der Industrie gescheitert. In den 1930er und 1940er Jahren erfand er ein Auto, dessen Karosserie fast komplett aus Kunststoff auf Hanf- und Sojabasis gefertigt wurde. Angetrieben werden sollte es zudem durch Pflanzenöle wie Hanföl. Aus der Verwendung der Pflanzenteile resultierten einige Vorteile. So war Fords Hanfauto wesentlich leichter und bei Unfällen sicherer als herkömmliche Fahrzeuge mit Stahl-Karosserie.

Zur Serienreife gebracht wurde das Auto jedoch auch nach zwölf Jahren der erfolgreichen Forschung nicht. Denn 1937 wurden Hanfprodukte in den USA durch den „Marihuana Tax Act“ hoch besteuert. Damit wurde die Nutzpflanze zu teuer für die industrielle Verwendung. Unterstützt wurde das neue Gesetz unter andrem durch die Stahl- und Erdölindustrie. „Hätte sich damals die Lobby nicht eingemischt, würden wir heute vielleicht alle in leichten und sicheren Hanfautos herumfahren“, sagt Flessner.

Trägheit gegenüber neuen Technologien

Ein weiterer Grund dafür, dass Zukunftsvorstellungen sich häufig über einen langen Zeitraum hinweg nicht oder nur wenig ändern, ist laut dem Zukunftsforscher ein psychologisches Phänomen: Die negative Persistenz. So tendieren wir Menschen dazu, an Gegenwärtigem festzuhalten. Daraus entstehe eine gewisse geistige Trägheit gegenüber neuen Technologien.

Und dennoch kommt es vor, dass sich unsere Zukunftsvorstellungen wandeln – wir erinnern uns an das anfangs beschriebene Atomauto. „Das hat oft damit zu tun, dass – meistens männliche – Forscher das Machbare aus einer aus Erfolgen resultierenden Euphorie heraus überschätzen. Wissenschaftler haben der Atomenergie in der Mitte des letzten Jahrhunderts einige Vorschusslorbeeren gegeben“, meint Flessner. Diese Selbstüberschätzung sei eine kognitive Verzerrung der Wahrnehmung. Später stellte sich heraus, dass das atomgetriebene Auto einfach nicht umsetzbar war und der Traum vom Atomauto platzte.

Science-Fiction beeinflusst Zukunftsvorstellungen

Einen noch größeren Einfluss auf die Vorstellungen von der Zukunft der Gesellschaft als Wissenschaft, Unternehmen oder Politik hat laut Flessner jedoch ein ganz anderer Akteur: „Ideen dazu, wie die Zukunft aussehen könnte, kommen zu großem Teil aus der Science-Fiction, aus Büchern, Comics oder Filmen. Fragt man Nobelpreisträger in spe, zum Beispiel Physiker, die am Teilchenbeschleuniger in Cern forschen, warum sie das tun – und ich habe das gemacht – dann geben sie zu, dass sie in jungen Jahren Science-Fiction gelesen haben. Und dass ihre Vorstellung von Technologien, die sie mit ihrer Forschung zukünftig möglich machen wollen, davon inspiriert wurde.“

Dazu, dass Vorstellungen aus Science-Fiction zum allgemeinen Zukunftsbild der Gesellschaft werden, führen verschiedene, komplexe Abläufe, die noch nicht ausreichend erforscht sind. Dabei hat die Kommunikation über solche Technikzukünfte eine essenzielle Bedeutung für viele gesellschaftliche Prozesse. Das stellt auch ein Leitfaden der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften Acatech fest: „Sie kann einer Debatte eine Wendung geben und Entscheidungen beeinflussen, möglicherweise unabhängig davon, wie konsistent, plausibel oder wissenschaftlich gut begründet die entsprechenden Zukünfte sind. Auch Vorstellungen über die Zukunft, die nicht einmal den Anspruch erheben, wissenschaftlich gut begründet zu sein, können die gesellschaftliche Debatte und Wahrnehmung wesentlich beeinflussen.“

Science-Fiction in der Werbung

Diese Bedeutung haben Unternehmen wie der Autohersteller Audi längst erkannt. Er wirbt in einem Spot mit seiner „Interpretation der Limousine der Zukunft“ – einem weltraumkapselartig anmutendem Konzeptauto mit transformerhaften Türen, Essensausgabe zwischen den Sitzen und Liegefunktion für die Nacht.

Grund genug also, unsere Vorstellungen von der (technischen) Zukunft von gestern, heute und morgen genau im Auge zu behalten. Denn das kann dazu beitragen, „den jeweils in einer spezifischen Gegenwart vorherrschenden Zeitgeist (Mainstream) zu relativieren, alternative Optionen, Perspektiven und Umgangsmuster in die Diskussion zu bringen und dadurch die Vorprägung durch die jeweilig gegenwärtigen Muster zu reflektieren und ggf. zu korrigieren“, wie der Physiker, Philosoph und Technikfolgenabschätzer Armin Grundwald in einem Beitrag in einer Publikation des Karlsruher Institut für Technologie schreibt. So können wir unsere Zukunftsvorstellungen in Zukunft besser an das anpassen, was vernünftig ist – ganz unabhängig von Lobbys und Science-Fiction.

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